Titel: Achterbahn ins Leben

 

Geschrieben von: Karin Bruns

Titelfoto: Blanca Thieme-Dietel                

Genre: Biographie

Erschienen: 7.10.2016 im Asaro Verlag

Internet: https://asaro-verlag.de

Umfang:

260 Seiten (60 Anschläge/30 Zeilen/Seite), gesamt Zeichen: 440.000

Zielgruppe:

Frauen ab 25, Krebspatientinnen, Schönheitsidealistinnen, Frauen zwischen Familie und Beruf, alleinerziehende Mütter

Hintergrund des Projektes:

Nach zwei Brustkrebserkrankungen bekam Claudia Lauer 2014 die Prognose, dass sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 75 % innerhalb der nächsten drei Jahre erneut an Krebs erkranken könnte. Für den Fall der Fälle beschloss die alleinerziehende Mutter einer damals 6-jährigen Tochter, ihr Leben bis 2014 aufzuschreiben.

Hintergrund des Autors:

Claudia Lauer, Jahrgang 1974, lebt in Recklinghausen, ist Mutter einer 8-jährigen Tochter und seit ihrer zweiten Brustkrebserkrankung 2013 Rentnerin. Die ehemalige Verwaltungsangestellte eines Krankenhauses führt stundenweise das Krebsregister des Hauses und steht in ihrer Freizeit Brustkrebspatientinnen zur Seite. Claudia Lauer ist eine aktive, sportliche und lebensfrohe Frau.

Inhalt:

Schön, attraktiv, perfekt – sowohl als Partnerin und Ehefrau als auch im Job und Zuhause – so wollte Claudia Lauer immer sein. Nach vier gescheiterten Beziehungen erhält sie mit 39 Jahren zum zweiten Mal die Diagnose Brustkrebs. Fast genau zehn Jahre ist es her, als die junge Frau, sehr sportlich und körperlich topfit, zum ersten Mal an Brustkrebs erkrankte. Sie wurde damals geheilt und brachte aller Prognosen und Empfehlungen der Ärzte zum Trotz ihr Tochter Anna Lena zur Welt. Für Anna Lena sagt Claudia dem Krebs noch einmal den Kampf an und schreibt ihr Leben auf. Als Leser begleiten wir die junge Frau auf ihrem Weg, teilen die Erinnerungen an ihr bisheriges Leben, ihre Angst und ihre Zuversicht. Dabei erleben wir, wie die schöne, naive Claudia alte Muster durchbricht und zu einer gestandenen Frau wird, die sich nicht mehr unterbuttern lässt und zu sich selbst und ihren Bedürfnissen steht. Im Mittelpunkt dieser Biografie steht nicht die Leidensgeschichte einer Krebspatientin mit Operationen, Chemotherapien, Haarverlust, körperlicher und psychischer Erschöpfung und letztlich auch ihrer Heilung, sondern ein bewegtes Leben, das einer Achterbahnfahrt gleicht.

Persönliche Einschätzung des Projektes:

Ursprünglich wollte Claudia Lauer ihr Leben bis zum Zeitpunkt ihrer zweiten Krebserkrankung aufschreiben, damit ihre Tochter Anna Lena später einmal weiß, wer ihre Mutter war. So führte die alleinerziehende Frau Tagebuch über ihren zweiten Kampf gegen den Brustkrebs und bat die Journalistin Karin Bruns, ihr bisheriges Leben aufzuschreiben. Die Arbeit am Buch förderte Einsichten und Erkenntnisse über scheinbar einzementierte Denkstrukturen und Muster zutage, die es Claudia Lauer ermöglichten, die Schwerpunkte ihres Handelns zu überdenken und neu zu setzen. Hierin steckt auch eine Chance für Leserinnen, die sich in ähnlichen Lebensgefügen befinden, die eventuell ebenfalls erkrankt sind oder die einfach etwas ändern möchten. Diese Biografie macht Mut und zeigt, wie wichtig es ist, zu sich selbst zu stehen, auf das Leben und die Liebe zu vertrauen, aber nicht alles zu glauben, was andere einem sagen.

Klappentext:

Das Pech wird der attraktiven Claudia scheinbar mit dem ganz großen Schöpflöffel serviert. Mit 39 Jahren und nach diversen suboptimalen Ausflügen in die Männerwelt erkrankt die alleinerziehende Mutter an Brustkrebs. Zum zweiten Mal. Wer jetzt eine Leidensleier erwartet, ist auf dem Holzweg. Wir begleiten eine naive, lebensfrohe Frau, die lernt, alte Muster zu durchbrechen und sich nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Eine, die lernt, dass man das Leben im Kern nicht mit Schönheit, Fitness und Perfektion zusammenhält. Auf geht’s zur Achterbahn ins Leben!


LESEPROBE

 

Donnerstag, 13. Juni 2013: Entdeckung

Schockiert stehe ich unter der Dusche. „Mama, was ist los?“ Meine Tochter Anna Lena ist mit ihren fünf Jahren schon richtig groß und kennt ihre Mutter gut. Gerade haben wir uns den Sand vom Spielplatz aus den Haaren gespült und nun schaut sie mit ihren großen, blauen Augen zu mir hoch. Ich ringe um Fassung, mein Herz rast so sehr, dass mir der Atem stockt. Einen Moment lang bleibe ich Anna Lena die Antwort schuldig. Ich kann es selbst nicht glauben, was ich da gerade ertastet habe. Während das Duschwasser über meinen Körper rinnt, über das, was ich in meiner rechten Brust gefühlt habe, diesen erbsengroßen Knubbel, versuche ich meine zitternden Hände unter Kontrolle zu bringen und suche nach Worten.

„Mein Schatz, alles ist in Ordnung.“ Ich drehe das Wasser ab, angele nach einem Handtuch und beuge mich zu Anna Lena herunter. Ganz fest nehme ich sie in den Arm, rubbele sie mit dem großen Frottee-Handtuch ab und drücke ihr so liebevoll wie ich kann einen Kuss auf die Stirn: „Ist alles gut. Und jetzt ab ins Bett mit dir!“ Heute ist Donnerstag, der 13. Juni 2013. Morgen früh muss Anna Lena wieder in den Kindergarten.

Eine halbe Stunde später – wir haben unsere Zu-Bett-Geh-Zeremonie inklusive Gute-Nacht-Geschichte und unseren kleinen Foppereien beendet und Anna Lena schläft in ihrem Hochbett – sinke ich nervös und immer noch voller Anspannung auf die Couch. Die kam übrigens erst vor Kurzem. Hier und da fehlt noch etwas Deko, im Großen und Ganzen bin ich aber gerade fertig geworden mit dem Einrichten. Aber nichts ist in diesem Moment unwichtiger als Möbel. Ich traue mich kaum, noch einmal meine Brust abzutasten. Zögernd wandern meine Hände wieder zu meiner rechten Brust. Doch. Da. Wie ein um sich wütendes Feuer breitet sich der Verdacht in mir aus: Hat der Krebs mich wirklich wieder eingeholt? Mein Puls hämmert an den Schläfen und das Kopfkino flimmert los.

Soll nun alles von vorn losgehen? Operation, Chemotherapie, Haarausfall, Strahlentherapie, die Angst, es nicht zu schaffen. Es ist neun ereignisreiche Jahre her, als ich zum ersten Mal an Brustkrebs erkrankt bin. Der Verdacht kam kurz vor Weihnachten 2003, da war etwas in der linken Brust. Am 5. Januar 2004 wurde der Tumor aus meiner Brust entfernt. Das Labor bescheinigte: hochaggressiv, ein G-3-Status, sehr schnell gewachsen. Schnell, das traf auf mein ganzes Leben in der Zeit um die Erkrankung herum und bis jetzt zu. Es verlief so ereignisreich, so paradox, schlug so viele verrückte Haken, dass ich heute mit nicht mal 40 finde, dass es nur bis hierher gut und gerne für mehrere Leben gereicht hätte. [...]

Vier Männer, vier Lebensabschnitte, die mich extrem geprägt haben. Vom vierten Mann habe ich mich kurz vor Weihnachten 2012 erst getrennt – die Scheidung steht noch aus und so wirklich durch sind wir beide noch nicht mit der Sache. Erst seit vier Monaten lebe ich mit Anna Lena in unserer neuen Eigentumswohnung in Stuckenbusch. Diese Wohnung mit Blick ins Grüne und auf die Halde Hoheward ist wie ein Hafen nach stürmischer See, endlich Ruhe, endlich durchatmen. Mit dem anderen Geschlecht bin ich im Moment erst mal fertig. Ich will nicht mehr perfekt sein für jemand anderen, nichts mehr erdulden für ein bisschen Liebe. Jetzt gibt es nur noch Anna Lena und mich. Meine Tochter ist das Wunder in meinem Leben, das eigentlich nicht geschehen konnte. Ich wurde vor sechs Jahren schwanger, obwohl mein Körper immer noch vollgepumpt war mit der Chemie, die den Krebs bekämpft hatte. Egal was jetzt passiert, ich darf sie nicht im Stich lassen.[...]

 

Kapitel 4

Wenn ich frei hatte, verbrachte ich in jenem Sommer viel Zeit mit Schwimmen. Vorzugsweise in der Mollbeck, dem Freibad am Stadtrand von Recklinghausen, das ich schon von Kind an kannte. Ich liebte es mit dem Rad hinzufahren, die umliegenden schmucken Bauernschaften zu durchqueren, vorbei am Rodelberg, an üppigen Feldern und durch das mit hellen Kieswegen und 70er-Jahre-Trimm-Dich-Fit-Stationen aufgepeppte Wäldchen, das direkt an die Mollbeck grenzte. Doch seit einiger Zeit gab es das Copa Ca Backum, ein schickes Spaßbad in Herten. Meine Kollegin Birgit und ich wollten zur Abwechslung einmal dorthin fahren. Es war Juli und im Radio hatten sie einen idealen Sommertag angesagt mit allem, was dazu gehört: Sonne, nicht ganz 30 Grad und nur einige verirrte Schäfchenwolken am sonst blauen Himmel. Um den Tag voll nutzen zu können, hatten wir uns beide frei genommen und ab ging es Richtung Backum. Vielleicht war es kein Zufall.

Wie wir ankamen, stellten wir fest, dass wir ganz offensichtlich nicht allein waren mit unserer Idee. Im Copa Ca Backum wimmelte es von Sonnenanbetern, Frischluftfans, Teeniecliquen, Muttis mit Kleinkindern und einfach allen, die an diesem Tag im kühlen Nass Erfrischung suchten. Kein freies Plätzchen auf den Steinstufen am Schwimmerbecken, dicht an dicht waren die bunten Badetücher auf dem Rasen drapiert, der Geruch der verschiedenen Sonnencremesorten vermischte sich mit dem von gerade erst gemähtem Gras und frisch frittierten Pommes. Wir streiften über das ganze Gelände, bis wir irgendwann doch noch eine freie Stelle für uns gefunden hatten. Genau neben uns beobachtete ein Mann, wie wir uns an unserem eroberten Fleckchen installierten. Decke ausbreiten, Handtücher drüber, Sandalen ordentlich an den Deckenrand, Sonnencreme aus der Badetasche raus, überflüssiges Textil in die Badetasche rein, eincremen und gut. Im Entspannungsmodus angekommen, bemerkte ich, dass der Mann immer noch guckte. Schön. Groß. Durchtrainiert. Strahlemann. Er sah wirklich attraktiv aus, hatte aber rosa Frauenflipflops vor seiner Matte stehen. Wie die Frau wohl aussah, die zu Mann und Flipflops gehörte? Und wieso begann er eine so charmant offensive Flirterei mit uns, wenn er doch Anschluss dabei hatte? Ich fand, es war besser, das Geschehen mit etwas Distanz zu beobachten, lehnte mich zurück und überließ Birgit das Plauderfeld. Ungefähr zehn Minuten später erschien des Rätsels Lösung: Die rosa Schläppchen gehörten seiner Tochter, damals neun Jahre alt. Freudestrahlend und tropfnass kam sie auf ihn zugehüpft. Das war also geklärt: Kein gewissenloser Anmacher, einfach nur ein Papi, der mit seiner Tochter einen Tag im Schwimmbad verbrachte. Ich klinkte mich wieder ins Gespräch ein, dieser Armin war ja wirklich ein Netter.

Als ich verkündete, dass ich mir ein Eis holen wollte, orderte Birgit auch eins und Armin wollte mit. Vor dem Eiswagen mussten wir Schlange stehen. Ich weiß nicht mehr, was wir gesprochen haben, aber an den Moment, in dem ich seine Brusthaare an meinem Rücken spürte, erinnere ich mich genau. Es war wie ein sanfter Stromschlag der mich elektrisierte. Trotz der Hitze stellten sich meine Härchen am ganzen Körper auf, das hatte ich schon lange nicht mehr gefühlt. [...]

 

Kapitel 5

Je mehr mir Armin in den nächsten Wochen im Kopf herumschwirrte, desto pflichtschuldiger arbeitete ich an meiner Rolle der guten Ehefrau. Zwei Monate nach unserem Treffen bereitete ich für Claudio und mich ein Frühstück de luxe zu. Brötchen, Orangen, Eier, Kerzchen an – alles schick und liebevoll aufgetischt. Ich hatte an diesem Samstag frei, Claudio hatte Mittagsschicht. Seit einem Jahr lernte er jetzt in seiner Umschulungsmaßnahme im Knappschaftskrankenhaus Krankenpfleger. An diesem Morgen nörgelte er herum: „Mensch, auf der Arbeit behandeln sie mich wie den letzten Dösi. Ständig schicken sie mich von Station Acht runter zum EKG in den Keller, andauernd muss ich rauf und runter. Das machen die doch mit Absicht, die wollen mich nur triezen.“ Ich versuchte ihn zu beschwichtigen: „Ach Claudio, nimm das nicht persönlich. So ist das halt, wenn man in der Ausbildung ist. Auch wenn du schon etwas älter bist, der Azubi ist nun mal derjenige, der die Laufarbeit macht und hin und her geschickt wird. Ist doch klar, andere Sachen darfst du ja noch nicht machen. Aber das kommt ja, wart nur ab.“ Statt sich ein bisschen getröstet zu fühlen, wurde Claudio jetzt richtig wütend: „Bei dir ist alles immer gut. Immer denkst du so positiv und quatscht dir die Welt schön“, brauste er auf. Mit einer ausladenden Armbewegung wischte er den Frühstückstisch leer. Eier, Orangensaft, Kaffee – wusch – alles landete klirrend auf dem Küchenboden. Claudio trampelte über die ganze Bescherung hinweg, raffte seine Sachen zusammen und knallte die Wohnungstür zu. Ich war vor Schreck von meinem Stuhl aufgesprungen und starrte ihm entsetzt hinterher. Tränen quollen aus meinen Augen während ich mit dem Rücken an der Wand lehnte und langsam an ihr herunter rutschte bis ich die Pfütze aus verschüttetem Kaffee, Milch und Saft, gespickt mit Wurstresten und Eistücken auf dem Boden erreicht hatte. [...]

Kurz vor Weihnachten 1999 rief Armin mich wieder an. In zwei Tagen wollte er mit Willi über die Feiertage Urlaub in der Dominikanischen Republik machen. Er könne aber die ständigen Gedanken an mich einfach nicht abstellen. „Was meinst du? Wollen wir uns vorher noch mal sehen?“ Die Funkstille hatte ich mir zwar selbst auferlegt, doch beim Klang seiner Stimme begannen die Schmetterlinge in meinem Bauch wieder zu flattern. Der Wunsch ihn wiederzusehen war so unwiderstehlich, dass ich einwilligte.

Alle Vorsicht war in den Wind geschossen und ich wollte ihn. In dem Moment, in dem ich nicht auf die Bremse trat, gab Armin Gas. Konkret: Wir landeten in einem Hotel. Spaßigerweise hieß es Hotel Lauer. Unerwartet und aufregend für mich. Mit Sicherheit von ihm geplant. Während Armin an der Rezeption ein Zimmer für eine Nacht klar machte – nein, Frühstück sei nicht nötig – versuchte ich mich so gut es ging im Hintergrund aufzuhalten, um meine Schamesröte zu verbergen. Nur ganz leise regte sich in meinem Hinterkopf irgendwo die Frage, wieso wir nicht zu ihm gegangen waren. Dass wir nicht zu mir konnten, war klar. Aber was hatte er zu verbergen? Doch zu beschäftigt mit Armins fordernden Liebkosungen verbuchte ich unseren wirklich sehr kurzen Kurztrip unter der Rubrik „Willkommenes Abenteuer“. Unsere erste Sexauszeit war für mich wie ein Ausbruch aus meinem freudlosen Leben mit Claudio, und es schmeckte nach mehr. Als ich danach an Armins Brust gekuschelt lag, sagte ich ihm: „Ich will das alles nicht mehr, ich kann dieses Leben und diese Gewalt nicht mehr ertragen.“ Armin streichelte mich: „Du, ich fahre jetzt erst mal in Urlaub und dann gucken wir, wie wir das machen. Wir holen dich da raus, vielleicht suchen wir dir erst mal eine Wohnung – wie auch immer.“ Ich seufzte dankbar und genoss unsere kostbare restliche Zeit in den bequemen Laken des Hotelbetts. Das vorprogrammierte dicke Ende schob ich so weit es ging von mir – doch es lauerte uns nicht einmal eine Stunde später auf. [...]

 

Kapitel 20

[...]Einige Tage später folgte mein Einkaufserlebnis mit Irina bei IKEA. Mit Erlebnis meine ich: Zwei Freundinnen, eine Wohnungseinrichtung, ein Fiat Punto – komm mit ins Abenteuerland! Den Fiat Punto hatte ich von einem Freund von Armin übernommen. Der hatte das Auto eigentlich für seine Freundin gekauft, aber nach der Trennung hatte der Mann noch eine Rate von 150 Euro monatlich an der Backe. Wir einigten uns darauf, dass ich die restlichen Raten abzahlen würde und der Fiat danach mir gehören würde. Deal!

Irina und ich also im Fiat Punto zum schwedischen Möbeltempel nach Dortmund. Zu meiner noch einsam in meiner neuen Wohnung stehenden Rattancouch suchte ich mir eine TV-Bank, einen Couchtisch und zwei Schränke aus. Alles in Dunkelbraun und platzsparend zerlegt in Kartons verpackt. Ob ich einen Transporter bräuchte, fragte mich die Kassiererin. Aber nicht doch, wir waren doch mit meinem kleinen Raumwunder unterwegs. Irina, dünn und drahtig aber ganz die patente Powerfrau, schob mit meiner neuen Einrichtung zum Ausgang, ich holte schon mal den Fiat. Die Blicke der Männer, die mit verschränkten Armen am Ausgang standen und rauchten, wirkten eher amüsiert als bewundernd. Aufmerksam beobachteten sie das Schauspiel. Nein, es kam ihnen kein „Kann ich helfen?“ über die Lippen. Vielmehr stand ihnen beim Anblick des uns beide fast überragenden Kartonturmes ein „Das soll da alles rein?“ auf der Stirn geschrieben. Unsere Darbietung sollte denen ein Beispiel gekonnter Systematik und uns ein innerer Vorbeimarsch sein.

Rücksitzbank umgeklappt, Beifahrersitz flachgekurbelt. Ein Karton nach dem anderen fand Platz in meinem erstklassigen Traum von Minitransporter. Passte alles rein. Was wir nicht bedacht hatten war, dass es nun keinen Sitzplatz mehr für Irina gab. Ihr Beifahrersitz war zur Ladestation geworden. Irina schlug vor, dass ich zuerst die Möbelpracht nach Recklinghausen fahren könnte und sie solange in Dortmund auf mich warten würde. „Das kommt nicht in Frage!“ entschied ich. „Wenn du dich ganz flach auf die Kartons legst, müsste es gehen.“ Irina krabbelte wie ihr geheißen über die Beifahrertür in den Kofferraum. Vom Fahrersitz aus konnte ich Irina nicht mehr sehen. „Bist du drin?“ Ein atemloses „Ja!“ schallte über den Paketberg zu mir herüber. Und ab dafür! [...]

 

Sonntag, 13. Oktober 2013: Krebslauf

[...] Ich habe mich für den Krebslauf entschieden und will ihn mitmachen. Das heißt: Am Ball bleiben und laufen. Jeden zweiten Tag schnüre ich die Laufschuhe und versuche so gut es geht mein Pensum zu schaffen. Jedes Mal, wenn ich außer Atem zurück komme, habe ich das Gefühl vom Omnibus überfahren worden zu sein. Die paar Treppenabsätze bis zu meiner Wohnung, die ich früher mühelos geschafft habe, scheinen nun eine ständig höhere Hürde zu sein. Was wäre es für eine Blamage, wenn ich den Krebslauf aus lauter Schlappheit abbrechen müsste? Am Sonntag früh rufe ich Bianca an: „Du Bianca, ich muss dir absagen. Ich schaffe es kaum aus dem Haus und sehe mich überhaupt nicht in der Lage, den Lauf zu schaffen.“ Doch ich habe nicht mit Blancas Hartnäckigkeit gerechnet. „Ich hole dich jetzt ab und wir fahren dahin. Vielleicht kriegst du dann doch noch Lust – wäre doch gelacht, wenn du die kurze Strecke nicht hinkriegst.“

Stöhnend ziehe ich mich an und mache Anna Lena fertig. Zum Laufen kombiniere ich den blonden Silikonring mit einem Käppi, damit ich nicht mit Glatze laufen muss. Mama hat gestern gesagt, dass sie mitkommt und auf meine Kleine aufpasst während ich mit Bianca auf die Strecke gehe. Treffpunkt ist die Gesamtschule Berger Feld in der Nähe der Schalke-Arena. Als wir ankommen, herrscht schon ein Treiben wie bei einem Volkslauf. Es gibt Lose, Tanzaufführungen und Kinderschminken – ich bin beeindruckt, wie viele Menschen sich zum Laufen, Walken und Nordic Walken anmelden. Als wir für unsere Startnummern anstehen, redet Bianca immer noch auf mich ein wie auf ein krankes Pferd, als befürchte sie, ich könne im letzten Moment kneifen. „Wenn du nicht mehr kannst, dann hörst du einfach auf.“ Das packt mich nun bei meinem Stolz. Ich und aufhören? Hinzu kommt, dass mich mittlerweile mich ein gewisser Fatalismus ergriffen hat. Was kann denn schon schlimmstenfalls passieren? Wenn ich tatsächlich zusammenbreche, bin ich nicht allein und Hilfe wäre sofort zur Stelle.

Wir nehmen Aufstellung an der Startlinie mit Hunderten von Läufern. Flüchtig erkenne ich im Gewimmel Dr. Heflik. Er grüßt und hebt den Daumen. Startschuss, die Läuferlawine setzt sich in Bewegung. Meine ersten Schritte sind eine Katastrophe. Es fühlt sich an, als hätte mir jemand Beton in die Beine gegossen. Ich schaffe es nicht – bestimmt nicht. Bianca ist ein paar Meter vor mir und ich will zu ihr aufschließen. Es dauert zwei, dreihundert Meter bis ich bei ihr bin. Am liebsten will ich ihr jetzt doch sagen, dass ich kapituliere, dass ich im Ziel auf sie warte. Doch jetzt erkenne ich, dass ich sie tatsächlich eingeholt habe. Wenn ich es bis hierher geschafft habe, dann kann ich auch weiter laufen. Aufgeben kann ich später immer noch. Ich beiße mir auf die Unterlippe: Weiterlaufen! Bianca habe ich gerade überholt, da sehe ich am Rand meine Kleine. Meine Mutter hat sie auf dem Arm und sie schreit: „Oma guck, da ist die Mama!“ Anna Lena winkt was das Zeug hält: „Mama, Mama“ skandiert sie rhythmisch und voller Stolz. Wie könnte ich sie jetzt enttäuschen? Reiß dich zusammen, Claudia! Ich versuche, mich auf die Musik zu konzentrieren, die aus meinem MP3-Player läuft. Immer im Takt mit. Stoß dich ab! Und Schritt und Schritt und ein und aus! Atmen, lauf, lauf. Je näher wir an die Arena kommen, umso mehr Leute stehen am Rand und feuern uns an. Sie sollen sehen, dass ich bis hierher gekommen bin. Mein Körper brennt, die Beine immer noch Blei, doch die Luft ist da und ich will es! Zähne zusammen und ankommen! Kurz vorm Ziel sehe ich Dr. Hefliks Hinterkopf. Nur ein paar Meter, dann hätte ich ihn eingeholt. Doch da ist er über die Ziellinie. Vier, drei, zwei, eins – Ziel! Auch ich bin im Ziel! Anna Lena rennt auf mich zu, Mama hinter ihr her. Ich taumele, halte mich mühsam auf den Beinen. Aber ich hab’s geschafft! Wie von weit her höre ich den Applaus. [...]

 

Januar 2014: DIEP Lappen-OP

Piep, piep, ding, ding, ding, piep, piep – es müssen viele Maschinen sein, an die meine Schläuche angeschlossen sind, und ihre Geräusche werden allmählich deutlicher. Noch kriege ich meine Lider nicht komplett hoch, doch offensichtlich liege ich im Bett und habe es überstanden. Der waberige Nebel in meinem Oberstübchen will sich noch nicht lichten. Am besten, ich dämmere einfach wieder weg, träume noch ein bisschen, der Kopf ist so schwer. „Hier ist jemand, der muss unbedingt zu Ihnen!“ Ich weiß nicht, wie lange ich schon aufwache, jedenfalls machen meine Hände jetzt das, was ich will. Ich greife mit ihnen den großen weichen Stoffhund, den die Intensivschwester mir reicht. Er gehört Anna Lena, es ist ihr Lieblingsschmusetier und eigentlich nimmt sie ihn abends immer mit ins Bett. Nun presse ich ihn mir ans Herz und weiß, dass er nach Anna Lena duftet, denn vorgestern Abend habe ich noch daran gerochen. Ich lag mit meiner Kleinen ins Bett gekuschelt und habe ihr erklärt, was in den nächsten Tagen sein wird. „Die Mama muss noch einmal operiert werden, damit sie wieder ganz gesund wird.“ Ich sagte ihr, dass es eine lange Operation an beiden Brüsten werden würde, vielleicht sechs oder acht Stunden, und ich deswegen einen, vielleicht sogar zwei Tage lang auf der Intensivstation bleiben müsse. Ob sie mir wohl etwas von ihr geben könnte, damit ich sie bei mir habe für die Zeit in der sie mich nicht besuchen dürfte? Ohne zu Zögern holte Anna Lena ihren Kuschelhund aus dem Bett und brachte ihn mir: „Hier Mama, den darfst du haben.“ [...]

Der Hund ist so groß, dass er heute Morgen nicht in meine Tasche gepasst hat und obenauf liegen musste. Mit meinem neuen Beschützer im Gepäck checkte ich dann im Bergmannsheil in Bochum ein, Station 3B, Zimmer 311. Eine Schwester von der Station muss den großen Hund gesehen haben und ihn ausnahmsweise auf die Intensiv gereicht haben, damit ich ihn beim Aufwachen bei mir habe.

Ich glaube, ich bin noch einmal eingenickt. Durch meine halb geöffneten Augen nehme ich den Raum wahr. Grüne Kacheln, Leuchtstoffröhre unter der Decke, kein Fenster und immer noch piep, piep, bing, bing. „Wie kann man nur so perfekt aussehen nach einer 17-stündigen Operation?“ Ich drehe den Kopf zu der Stimme die offensichtlich mich meint. An meinem Bett steht ein weißer Kittel. Hat er 17 Stunden gesagt? [...]

 

4. Februar 2014: Feier des Lebens

Heute ist Dienstag, der 4. Februar 2014, spät am Abend – mein 40. Geburtstag. Ich bin noch gebeutelt von der Operation, kann mich immer noch nicht wirklich bewegen, doch heute habe ich den schönsten Geburtstag meines Lebens gefeiert. [...] Um die 60 Leute waren heute da, und es war keine Feier für meine Gäste, sondern mit ihnen. Ich habe mit ihnen das Leben gefeiert, unser Leben, die Gesundheit, und dass ich so viele tolle Menschen an meiner Seite habe. Und sie haben alles mitgebracht, jeder hatte beim Reinkommen etwas in der Hand. Kuchen, Gebäck, Essen, Getränke, Knabbereien – für alles war gesorgt. Die Mitbringparty hatte ich mir zusammen mit Diana schon im Krankenhaus überlegt, dann hatte ich alle eingeladen. Heute früh ging es um halb zehn los, die letzten sind eben gegangen. [...] Ich saß abwechselnd auf dem Sofa und auf einem Stuhl, die Beine hochgelagert, und brauchte einfach nur anzustoßen mit allen. Und natürlich musste ich meine Brüste zeigen, alle wollten sie sehen! Kurz: Es war wunderbar, am liebsten hätte ich eine 500-Quadratmeter-Wohnung gehabt um noch mehr Gäste empfangen zu können.

Und nun sitze ich mit einem Absacker auf dem Sofa, total erschöpft aber glücklich und voll von den Eindrücken des Tages. Die Wohnung ist komplett wieder aufgeräumt, sogar das Leergut haben meine Gäste wieder mitgenommen. Dieser Geburtstag heute war der Start in den Rest meines wertvollen Lebens.